Eine kurze Einführung
Unser Weltbild, das allgemein wissenschaftliche und das lebensweltliche, gründet immer noch auf den grundlegenden Einsichten, die sich aus der Mechanik Newtons und der daraus abgeleiteten Physik ergeben haben. Damit legt es eine Art physikalische Weltbeschreibung zu Grunde, wie sie am Ausgang des 19. Jahrhunderts gültig war. Seither hat sich die Physik dramatisch verändert.
Die Wissenschaften und unser gesellschaftlich vermitteltes Weltbild haben diese Veränderungen allerdings kaum aufgegriffen. Zu sprechen wäre da von der grundlegenden Bedeutung des Begriffes der Komplementarität. Er bezeichnet die Tatsache, dass manchmal zum Verständnis einer Sache maximal inkompatible Beschreibungen nötig sind, um diese zu charakterisieren.
Bekannt sind etwa die physikalischen Grössen Ort und Moment, oder die Wellen- und Teilchenbeschreibung des Lichtes. Das Besondere an der Komplementarität als Begriff ist folgendes: Wir haben uns in unserer abendländischen Geistesgeschichte – das ist wichtig, denn in der buddhistischen Logik z.B. ist das deutlich anders – bislang nur einfache Gegensätze benutzt, logische oder aussagenlogische etwa. All diese Gegensätze sind so formulierbar, dass das Gegenteil einer Aussage durch die Verneinung dieser Aussage ausgedrückt werden kann. „Warm“ ist dann etwa identisch mit „nicht kalt“, oder „dunkel“ mit „nicht hell“.
Logische Gegensätze befinden sich auf der gleichen begrifflichen Ebene. Das ist bei komplementären Grössen anders.
Anders ausgedrückt: logische Gegensätze befinden sich auf der gleichen begrifflichen Ebene. Das ist bei komplementären Grössen anders. Hier kann nicht einfach eine Verneinung einer Aussage verwendet werden, um das komplementäre Gegenüber zu gewinnen. „Grün“ ist nicht das Gegenteil von „rot“, genauso wenig wie „Korpuskel“ das Gegenteil von „Welle“ ist, oder „Geist“ das Gegenteil von „Materie“.
Mit der Quantenmechanik kommt ein neuer Aspekt in die Diskussion, nämlich die ganzheitliche Betrachtung von Situationen, Gegenständen oder Sachverhalten, bei denen maximal inkompatible Gegensätze nötig werden, um die Sache zu verstehen. Daher ist auch, formal gesehen, der Kern des quantenmechanischen Formalismus das Umgehen mit und Handhaben von inkompatiblen Grössen. Das drückt sich aus in der sogenannten Nicht-Kommutativität von Operatoren und einer speziellen Algebra, die es erlaubt solche Situationen formal zu handhaben.
Wir kennen in unserer Lebenswelt die normale, Abelsche Algebra. In ihr sind 2 mal 3 identisch mit 3 mal 2 und beides ergibt 6. In der Algebra, die die Quantenmechanik verwendet ist aber p mal q nicht notwendigerweise identisch mit q mal p. Man kann es auch so ausdrücken: die Differenz des Produktes von p mal q und q mal p ist von Null verschieden. Dies ist die Grundaussage der Heisenbergschen Unschärferelation. Man sieht daran: der grundlegendste Sachverhalt, der von der Quantenmechanik erfasst wird, der bislang nicht in der geistesgeschichtlichen Diskussion relevant war, ist der theoretische Umgang mit komplementären oder inkompatiblen Begriffspaaren. Genauer gesagt, in der Quantenmechanik sind solche Grössen nötig und unreduzierbar.
Nun meinen viele Zeitgenossen, das würde uns nichts angehen. Denn schliesslich befasst sich die Quantenmechanik mit dem winzig Kleinen in Raum und Zeit und unsere Grössen sind weit von der Planck-Grösse entfernt, die eine Grösse mit 23 Nullen hinter dem Komma ist. Und in den vielen Interaktionen, die stattfinden, bis aus den winzigen Teilchen und kurzen Reichweiten von Kräften unsere klassische Welt entsteht, gehen alle Quanteneffekte in stabilen und reproduzierbaren, separierbaren und analysierbaren Elementen grösserer und zuverlässigerer Bauart unter. Daher würde für die normalen Alltagsgeschäfte und alle Wissenschaften, die sich mit Gegenständen und Erfahrungen unserer Lebenswelt befassen die normale, klassische Physik als Grundlage reichen.
Auch in unserer Lebenswelt ist diese quantentheoretische Betrachtung relevant.
Wir halten das nur für teilweise richtig. Wir meinen: auch in unserer Lebenswelt ist diese quantentheoretische Betrachtung relevant. Wir kennen auch in der Lebenswelt komplementäre Begriffspaare, die nötig sind, um eine Sache zu beschreiben: Menschen z.B. sind sowohl vereinzelt, aber auch in Verbundenheit, sie sind Individuen und sie sind nur in Gemeinschaft lebensfähig. Das eine kann nicht aus dem anderen abgeleitet werden. Einzelne Personen sind sowohl körperlich-materieller als auch geistig-immaterieller Natur, und das eine kann nicht auf das andere reduziert werden. Wer in einer engen Beziehung lebt weiss: der Menschen, den man am meisten liebt, kann einem auch am meisten auf den Wecker gehen und enge menschliche Beziehungen sind häufig von solchen komplexen Situationen geprägt, für die eigentlich nur komplementäre Begriffspaare zur Beschreibung taugen. Liebe und Hass, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Bindung und Freiheit, und dergleichen Begriffspaare sind Klassiker aus der Philosophiegeschichte und der Literatur.
Wir meinen also: die quantenmechanische Betrachtungsweise sollte man, ja muss man eigentlich verallgemeinern. Denn sie ist manchmal auch auf andere Systeme als die strikt quantenmechanischen anwendbar. Diese Idee verfolgt unser Programm der Generalisierung der Quantentheorie. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir damit nie behauptet haben, wie häufig zu hören ist, wir würden unzulässigerweise Quanteneffekte in die Makrowelt extrapolieren. Wir drehen den argumentativen Spiess um und meinen: vermutlich ist die ganze Welt, ob Makro, Meso oder Mikro, nach den gleichen Gesetzmässigkeiten bzw. Strukturen aufgebaut. Diese wurden einfach in der Quantenmechanik zuerst entdeckt, weil diese so unglaublich präzis und formal genau formuliert ist und daher auch präzise durch Experimentierkunst solche Zusammenhänge belegen kann. Daher sind quantentheoretische Konzepte wie Komplementarität auch in unserer Lebenswelt von Bedeutung.
Vermutlich ist die ganze Welt, ob Makro, Meso oder Mikro, nach den gleichen Gesetzmässigkeiten bzw. Strukturen aufgebaut.
Den Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise spüren wir nach. Was wir bis jetzt verstanden haben bedeutet, dass sich daraus eine neue Art des Begriffs von Ganzheit gewinnen lässt. Denn Ganzheit setzt immer auch die Integration solcher Gegensätze voraus. Wir Menschen etwa sind Ganzheiten und zur ganzheitlichen Betrachtung des Menschen gehört die materiell-physiologische des Organismus genauso wie die introspektiv-subjektive unseres Bewusstseins. Dies sind komplementäre Grössen, die erst gemeinsam eine ganzheitliche Betrachtung des ganzen Menschen möglich machen.
Und noch etwas anderes fasziniert uns an dieser Sichtweise: in der Quantenmechanik gibt es verschränkte Systeme. Das sind solche, bei denen sich die Systemelemente korreliert verhalten, ohne dass Signale zwischen diesen Elementen ausgetauscht werden. Daher spricht man auch oft davon, dass es sich dabei um nicht-lokale Korrelationen handelt. Man könnte auch sagen, dass in solchen Systemen nur verschiedene Systemelemente gemeinsam eine bestimmte Kennzeichnung oder Beschreibung haben und dass es keinen Sinn macht, Einzelelemente separiert voneinander beschreiben zu wollen. Auch das, so denken viele, ist nur für spezielle Quantensysteme, die man noch dazu meistens extra erzeugen muss, um sie zu studieren, relevant.
Auch da sind wir anderer Meinung. Und zwar aus zwei einfachen Gründen: Erstens ist in der Quantenmechanik Verschränkung formal gesehen nur ein spezieller Fall von Komplementarität. Sie tritt dann auf, wenn die Beschreibungsweisen eines Gesamtsystems und die seiner Teile zueinander komplementär sind. Denn dann sind diese Teile miteinander nicht-lokal verschränkt. Wenn aber Komplementarität nicht nur in quantenmechanischen Systemen relevant sein soll, sondern auch in anderen, dann müsste logischerweise auch Verschränkung, die ein Spezialfall von Komplementarität ist, ebenfalls in solchen Systemen vorkommen. Zweitens scheint es uns offensichtlich zu sein, dass es viele nicht-lokale Ereignisse auch in unserer Lebenswelt gibt.
Meistens übersehen oder ignorieren wir sie, weil sie in unserem klassisch-physikalischen Weltbild keinen Platz haben, oder aber, wir versuchen – unzulänglicher und unzulässiger Weise – solche Phänomene mit einem notdürftigen kausalen Verständnis auszustatten. Telepathie, Hellsehen, Präkognition etwa wären lebensweltliche Phänomene, von denen wir vermuten, dass sie nichtlokal in ihrer Natur sind und daher als generalisierte Verschränkungsphänomene verstanden werden müssen. Möglicherweise sind auch viele andere Phänomene, die wir noch nicht gut verstanden haben, Beispiele für solche nicht-lokale Verschränkungen generalisierter Art.
Möglicherweise sind viele Phänomene, die wir noch nicht gut verstanden haben, Beispiele für nicht-lokale Verschränkungen generalisierter Art.
Bestimmte Formen der Gegenübertragung etwa in engen menschlichen Beziehungen wie in therapeutischen Zusammenhängen, aber auch in Familien, systemische Effekte innerhalb von Familien und zwischen Generationen, Stellvertretereffekte in der systemischen Therapie, bestimmte Aspekte von unkonventionellen medizinischen Therapien wie der Homöopathie oder vieler vermeintlich „energetischer“ Heilweisen, all dies wären Beispiele für Phänomengruppen, die möglicherweise aufgrund nichtlokaler Korrelationen zustande kämen. Eine solche Sichtweise liefert dann aber auch ein noch weitergehendes Verständnis von Ganzheit, weil es begreiflich macht, dass Einheiten oder Ganzheiten nicht nur physikalisch an einem Ort vorkommen, sondern vielleicht über Systemgrenzen zusammengefasst werden, die auch räumlich oder zeitlich weit getrennte Elemente umspannen.
Insofern ist dieses Bemühen der Versuch, Ganzheit theoretisch verantwortungsvoll zu beschreiben. Damit meinen wir: angekoppelt an die stärkste Form der Theoriebildung, die es derzeit in unserer Wissenschaft gibt, nämlich die Quantentheorie. Indem wir sie generalisieren tun wir zwei Dinge: Wir postulieren, dass die Grundstrukturen, die die Quantenmechanik beschreibt relevant für alle Systeme sind. Und wir lösen die starke quantitative Bindung an Grössen, wie etwa die Planck-Konstante, auf, wodurch die Theorie weniger präzise wird und nicht mehr für quantitative, sondern nur für qualitative Vorhersagen genutzt werden kann. Verallgemeinerung und Präzision sind eben auch komplementäre Grössen.
Häufig wird dann eingewendet: Ja aber wo sind denn die experimentellen Belege für diese Behauptung. Die haben wir vorderhand noch nicht. Im Moment haben wir nur eine theoretische Intuition und den qualitativen Plausibilitätsnachweis, dass eine solche Betrachtung sinnvoll sein kann und zum Beschreiben vieler bislang schlecht verstandener Phänomene taugt. Wir finden: das ist auch schon ziemlich wertvoll. Es könnte durchaus sein, dass ein direkter experimenteller Nachweis für die Existenz solcher Phänomene nicht zu führen ist. Denn experimentelle Nachweise setzen immer auch voraus, dass Elemente stabil sind, isolierbar und replizierbar. Im Grunde setzen Experimente kausale Strukturen voraus, die es per definitionem in solchen Systemen eben gerade nicht gibt.
Im Grunde setzen Experimente kausale Strukturen voraus, die es per definitionem in solchen Systemen eben gerade nicht gibt.
Man könnte dann einwenden, dass es aber doch bei den eigentlichen quantenmechanischen verschränkten Systemen sehr wohl funktioniert hat, sie experimentell zu sichern. Und ausserdem sei das doch eine klassische Immunisierungsstrategie. Beide Einwände stimmen nur teilweise. Im quantenphysikalischen Fall konnte ein experimenteller Nachweis von Verschränkung nur deswegen geführt werden, weil vorher aus der Theorie Zusammenhhänge und quantitative Erwartungen abgeleitet werden konnten. Das eigentliche „Experiment“ ist in dem Sinne kein Experiment. Denn hier wurde keine Kontrollbedingung erzeugt und eine experimentelle Messreihe mit dieser verglichen. Sondern die theoretische Erwartung ergab den Vergleichshorizont, mit dem einfache Messungen verglichen wurden.
Würde man dazu eine makroskopische Analogie ziehen wollen, dann müsste man etwa ein Experiment realisieren, bei dem man zum Beispiel fragt, wie häufig Mütter, deren Söhne bei einem Verkehrsunfall oder im Krieg ums Leben kommen, kurz zuvor oder zeitgleich merkwürdige Träume oder Erlebnisse haben und diese dann mit einer theoretischen Erwartung vergleichen. Da wir keine theoretische Erwartung für solche Ereignisse kennen, wird ein solches Experiment sehr schwierig werden. Eine Immunisierungsstrategie sieht zwar ähnlich aus, wie unsere Argumentation, ist aber sowohl formal als auch sachlich etwas anderes. Formal würde es sich dabei um Phänomene oder Kategorien handeln, die auf der gleichen kategorial-theoretischen Ebene stünden, also vom Prinzip her einem experimentellen Test unterzogen werden können. Das sind diese Phänomene aber per definitionem eben genau nicht.
Im Übrigen denken wir sehr sorgfältig über mögliche empirische Tests nach, nur ist das Ganze alles andere als trivial. Von daher stimmt das Argument von der Immunisierung sachlich nicht. Aber wir geben zu bedenken: es könnte sein, dass eine andere Kategorie von Phänomenen auch neue Kategorien von Methoden benötigt. Erst mit Interferometern war der Wellencharakter des Lichts beweisbar.
Die Tatsache, dass in den Kognitionswissenschaften quantenähnliche Strukturen diskutiert werden, dass sie in der Biologie als möglich relevant eingeschätzt werden bekräftigt uns in der Intuition: quantenmechanische Strukturen haben womöglich auch in unserer menschlich-psychologischen Lebenswelt einen wichtigen Platz. Diesen zu erkunden und die Konsquenzen auszuloten ist unser Anliegen.