Evidence Based Medicine“ (EBM) wird in der Regel als eingedeutschter Amerikanismus und falsch als „Evidenz Basierte Medizin“ übersetzt. Die Übersetzung ist in mehrfacher Hinsicht falsch und der Begriff Evidenz wird in der Diskussion mit sachlich unbrauchbaren Konnotationen aufgeladen.
„Evidence“ heisst im Englischen „Beweis“, „Klarheit“. „I have evidence that Peter poisoned our cat“ würde heissen „Ich habe Beweise dafür, dass Peter unsere Katze vergiftet hat.“. „It is evident that people are living longer now than they did 100 years ago“ heisst „Es ist völlig klar und bewiesen, dass Menschen heute länger leben als vor 100 Jahren“. Im Deutschen heisst „Evidenz“ gerade das, was keinerlei Beweises bedarf: „Es ist evident, dass die Summe der Winkel im Dreieck 180 Grad beträgt“. „Es ist evident, dass die Durchschnittstemperatur im Sommer höher ist als im Winter.“ „Wahre Sätze können nicht falsch sein. Das ist evident.“ Derlei Aussagen bezeichnen wir im Deutschen als evident. Das Englische „evident“ bezieht sich, philosophisch gesprochen, auf Aussagen „a posteriori“, um mit Kant zu reden, also auf solche, die empirischer Belege bedürfen, damit sie richtig sind. Das Deutsche „evident“ bezieht sich auf Aussagen „a priori“, die eben genau keiner Belege bedürfen, weil ihre Richtigkeit logisch aus akzeptierten Prämissen abgeleitet ist. Soweit einmal die sprachliche Analyse.
In diesem Sinne müsste man „evidence based medicine“ mit „Medizin, die sich auf empirische Belege stützt“ oder „datengestützte Medizin“ übersetzen. Damit stellt sich die Frage, was man als empirische Belege und Daten akzeptieren will, auf die man medizinisches Handeln gründen kann. Hier taucht der zweite Fehler auf, der implizit gemacht wird:
Die Gründerväter der EBM haben klar gesagt, EBM heisst
a) die beste verfügbare Informationslage aus wissenschaftlicher Literatur PLUS
b) Die fachliche Meinung des behandelnden Arztes PLUS
c) die Präferenz und der Wunsch des Patienten.
Alle drei sollen zusammenkommen.
Dies wird in der deutschen Diskussion mittlerweile verkürzt wiedergeben mit der uns Deutschen eigenen Art des vorauseilenden Kadavergehorsams gegenüber allem, was wir als Autorität sehen und akzeptieren. Dazu kommt die menschliche Eigenart, das Denken abzustellen sobald man einen Begriff hört, von dem man meint, alles sei damit gesagt.
Autorität, das ist die angelsächsische Welt. Also hören wir auf zu denken. Und wenn jemand EBM sagt, dann meinen wir: nur Daten aus randomisierten, besser noch placebo-kontrollierten Studien zählen. Alles andere ist irrelevant. Diese Meinung ist nicht nur sachlich falsch. Sie ist auch wissenschaftlich, gesundheitspolitisch und praktisch gefährlich. Das will ich im folgenden Schritt für Schritt zeigen und eine sinnvollere Interpretation als die gängige vorlegen.
Nun fangen wir an zu denken und wollen darüber nachdenken, was gute empirische Belege sind, die medizinisches Handeln stützen können. Denn im Moment wird der Begriff „Evidenz“ von allen möglichen und unmöglichen Leuten als Kampfbegriff in die Runde geschleudert um das zu bekämpfen was ihnen missfällt. Kritiker der Komplementärmedizin verwenden den Begriff um zu suggerieren, dass sie hier fehle. Kritiker der klinischen Autoritätsmedizin verwenden ihn, um sich von ihren medizinischen Autoritätsfiguren im Namen der Wissenschaft zu emanzipieren und die Wissenschaft als Schutz und Schild gegen autoritäres Gehabe zu verwenden. Zulassungsbehörden verwenden ihn, um vermeintliche Spreu von vermutlichem Weizen zu trennen. Schreiber von Übersichtsarbeiten verwenden ihn, um sich die Sache leicht zu machen und nicht allzu viel nachdenken zu müssen; schliesslich scheint EBM ein einfaches Rezept und einen guten Vorwand zu liefern, um nur einen Teil der vorhandenen Information berücksichtigen zu müssen.
Genau hier wollen wir ansetzen und nachdenken:
Was genau heisst es nun, sich auf wissenschaftliche Daten zu stützen?
Welche Art von Daten, für welche Art von Fragestellung, brauchen wir?
Liegen sie vor? Wenn nein, können wir sie erzeugen? Wie genau?
Und schliesslich: Was wissen wir?
Ich schlage vor, Sie machen als Vorbereitung eine kleine Denk- und Rechercheübung:
Suchen Sie sich einen klinisch relevanten Bereich, der Ihnen in Ihrer Praxis, in Ihrem Leben oder in Ihrer Familie öfter vorgekommen ist.
Zum Beispiel: chronische Rückenschmerzen oder chronische Polyarthritis. Schlagen Sie die entsprechenden Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaft nach. Was wird dort empfohlen? Dann fragen Sie sich: Worauf stützt sich diese Empfehlung? Verfolgen Sie die Literatur zurück bis zu den originalen Studien. Dann sehen Sie sich a) die Ein- und Ausschlusskriterien an und b) die Behandlungsdauer, die in dieser Studie geprüft wurde. Es wäre auch nützlich zu überlegen ob c) die Anzahl der Patienten in der Studie gross genug war, um potenzielle Nebenwirkungen aufzuspüren. Wenn dies nicht der Fall ist, suchen Sie d) nach einer gross angelegten und ausreichend langen Beobachtungsstudie in der Literatur. Aus Gründen des Copyright kann ich Ihnen nicht ersparen, diese Informationen selber zu suchen.