Über die Weihnachtstage habe ich einem meiner wissenschaftlichen Hobbys gefrönt und ein Buch gelesen, das schon ein halbes Jahr auf meinem Schreibtisch lag: das spannende Buch von Sylvain Gouguenheim, einem französischen Mittelalterforscher aus Lyon „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ [1]. Ich habe mich ja durch die Arbeit an „meinem“ mittelalterlichen Mystiker Hugo de Balma ziemlich intensiv mit der Scholastik und damit auch mit der Überlieferung des Aristoteles im Mittelalter beschäftigt [2-5] und daher hat es mich naturgemäß sehr interessiert zu hören, was es hier an neuen Erkenntnissen gibt.
Gouguenheim zeigt, dass es das ganze Mittelalter hindurch Übersetzungen von Aristoteles gegeben hat
Die Standardmeinung ist ja, kurzgefaßt: Aristoteles war dem lateinischen Mittelalter bis auf wenige Textausschnitte unbekannt und kam erst langsam durch Übersetzungen, zunächst aus dem Arabischen, vermittelt durch Übersetzerschulen in Toledo aber auch in Sizilien und Neapel, wieder ins Bewusstsein der Gebildeten. Hier kommt nun ein Buch, das relativ schlüssig belegt, dass diese Sicht der Dinge falsch ist, zumindest in dieser Ausschließlichkeit. Gouguenheim zeigt, dass es das ganze Mittelalter hindurch Übersetzungen von Aristoteles gegeben hat, dass schon im 12. Jahrhundert, also fast zwei Generationen bevor die Übersetzungen aus dem Arabischen eintreffen, andere Übersetzungen vorliegen und damit der gesamte Aristoteles bekannt war.
Er macht dann nicht sachlich, aber wissenschaftssoziologisch, einen großen Fehler
Er zeigt auch, dass die islamischen Eroberer in Arabien, Palästina, Syrien und der Gegend, die wir heute Irak nennen, zunächst auf eine blühende Kulturlandschaft gestoßen sind und dort an ihren Höfen die Wissenden, und das waren vor allem christlich-syrische, koptische, jüdische und iranische Gelehrte, versammelten. Er macht dann nicht sachlich, aber wissenschaftssoziologisch, einen großen Fehler: er sagt, der Islam sei weniger Kulturträger und Förderer der Wissenschaft gewesen, als wir das denken. Vielmehr seien es genau jene gebildeten Schichten aus anderen Gemeinschaften gewesen, die gewissermaßen Geburtshilfe bei der Islamischen Gelehrsamkeit geleistet hätten. Und überhaupt sei der Islam viel weniger an Wissenschaft und Rationalität interessiert gewesen, schon damals nicht, als man das gemeinhein denkt. Die islamischen Denker, die wir so loben, seien erstens oft gar keine genuin islamischen Denker gewesen und hätten zweitens meistens innerhalb ihrer eigenen Kultur massive Schwierigkeiten bekommen.
Und was geschah? Ein veritabler Shitstorm brach los,…
Und was geschah? Ein veritabler Shitstorm brach los, nachdem Le Monde de Livres eine wohlwollende Besprechung des Philosophen Roger-Pol Droit gebracht hatte [6]. Zunächst Blogger, aber auch Zeitungen verrissen das Buch. Vor allem die islamkritischen Passagen, die eigentlich im Argumentationsgefüge des Buches ziemlich peripher sind, wenn man den ganzen Text in seinem Zusammenhang liest, wurden über Proportion aufgeblasen und heftigst diskutiert. Dem Autor wurde Islamophobie vorgeworfen, er wurde schlecht geredet. Die eigentliche Botschaft des Buches trat in den Hintergrund. Auch hiesige Zeitungen, die SZ [7], aber auch andere Blätter, stimmten in die Kakophonie der Verrisse mit ein, obwohl erste Berichte in der Neuen Zürcher z.B. durchaus neutral bis positiv waren [8].
Ich bin eigentlich eher zufällig auf diese Skandalgeschichte gestoßen, weil der deutschen Ausgabe des Buches zwei zur Vorsicht ratende Kommentare beigegeben sind, die wohl die französische Rezeption sozusagen im vorauseilenden Gehorsam hierzulande etwas abmildern sollten.
Dann habe ich mir die Blogs und Rezensionen angeschaut und bin richtig erschrocken:
Was so eine eigentlich völlig unpolitische Figur wie ein Mediävist, der sich mit der Überlieferungsgeschichte des Aristoteles im Mittelalter beschäftigt und das auf hohem Niveau tut, so alles auslösen kann?!
Wie ein Buch, das nun sachlich wirklich hervorragend recherchiert und fundiert ist, wenn man mal davon absieht, dass das Buch eine wegweisende Konferenz des Thomas-Instituts zum Islam im Mittelalter nicht rezipiert, die wohl parallel zur Fertigstellung stattgefunden hat, wie ein solches Buch derartigen Trubel auslösen kann?
Das Hauptargument des Buches ist nämlich gut belegt. Der Autor zeigt, wie andere Übersetzer schon zur damaligen Zeit den ganzen Aristoteles auf Latein vorgelegt hatten, wie der Text verbreitet war, wie namhafte Autoren der damaligen Zeit schon bevor die Übersetzungen aus dem Arabischen vorlagen diese alten Übersetzungen zitierten. Für den Nicht-Fachmann ist das vielleicht ein bisschen akademisch, aber für jeden, der sich ein bisschen auskennt ist das eine hochinteressante und brisante Information.
Woher also die Aufregung? Sie kommt, denke ich, daher, dass der Autor ein Tabu gebrochen hat:…
Woher also die Aufregung? Sie kommt, denke ich, daher, dass der Autor ein Tabu gebrochen hat: er hat sich politisch unkorrekt verhalten, indem er den Islam als weniger wissenschaftsfreundlich dargestellt hat, als man das landläufig tut. Das spielt möglicherweise, und das ist das politisch Unkorrekte, rechten fundamentalistischen Kreisen einen Ball zu, den sie dazu verwenden, islamfeindliche Töne nun wieder lauthals, mit dem vermeintlichen Segen der Wissenschaft versehen, in die Welt zu blasen.
Gouguenheim hat die westlich-christliche Tradition wertemässig über den Islam gestellt, etwas, was man offenbar nicht tun sollte. Deswegen war die Kritik, die von Fachkollegen geäußert wurde auch weniger an den Inhalten orientiert, sondern an den impliziten und expliziten Werturteilen, die Gouguenheim geäußert hatte. Das Tabu sind scheinbar diese Werturteile oder die Wertesphäre, die man gefälligst zu teilen hat – eine linksliberale, christlich-kulturkritische, die eigene Tradition skeptisch beäugende, fremde Traditionen verklärende Haltung. Interessant daran ist, dass all dies völlig unbewusst und implizit abläuft.
Gouguenheim hat die westlich-christliche Tradition wertemässig über den Islam gestellt, etwas, was man offenbar nicht tun sollte.
Jedenfalls schlägt das Tabu brutal zurück. Früher wurden Tabubrecher aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Heute erfüllt die Blogosphäre offenbar die Funktion eines digitalen Mobs, der die Tabubrecher isoliert. Durch mehr oder weniger qualifizierte, mehr oder weniger giftige, mehr oder weniger persönliche Angriffe. Das Interessante an diesem Fall ist, dass die entscheidenden Angriffe im Internet vorgetragen wurden, also in einem Medium, das sich jeder fachlich-sachlichen Filterkritik entzieht.
Von wegen Aufklärung, von wegen Rationalität, von wegen Reflexion.
Dies liefert dann dem Feuilleton den Grundton für seine Variationen der Entrüstung, mit der man offenbar besser Aufmerksamkeit und Geld generieren kann als mit solider Recherche und nüchterner Rezeption. Mich hat das an meine eigene Erfahrung erinnert. Aus der Distanz und mit dem Kunstgriff der Verfremdung sieht man ja die konstruktivistische Seite unserer Wirklichkeit besser: Tabubruch wird nach wie vor völlig irrational behandelt durch Rauswurf aus der Gemeinschaft. Der Pöbel und Mob von einstmals ist virtuell geworden, die Rädelsführer sind Autoren, die nur teilweise sachlich gut informiert sind und über die virtuelle Präsenz Macht gewinnen. Aber die grundlegende Psychologie ist immer noch die gleiche. Von wegen Aufklärung, von wegen Rationalität, von wegen Reflexion. Purer Instinkt, scheint mir, hat hier zu geschlagen. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich drüber entsetzt oder amüsiert sein soll.
- Gouguenheim, S. (2011). Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln des christlichen Abendlandes. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
- Walach, H. (1994). Notitia experimentalis Dei – Erfahrungserkenntnis Gottes. Studien zu Hugo de Balmas Text „Viae Sion lugent“ und deutsche übersetzung. Salzburg: Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Salzburg. Analecta Cartusiana 98:1
- Walach, H. (2009). A medieval Carthusian monk’s recipe to multiple kensho: Hugh of Balma’s approach to mystical union and some striking similarities to modern Zen teaching. Studies in Spirituality, 19, 199-225.
- Walach, H. (2010). Notitia Experimentalis Dei – Experiential Knowledge of God: Hugh of Balma’s Mystical Epistemology of Inner Experience – A Hermeneutic Reconstruction. Salzburg: Institut für Anglistik. Analecta Cartusiana 98:2
- Walach, H. (2012). Rezeptivität und Streben – Die mystische Epistemologie Hugo de Balmas. In M. Niederkorn-Bruck (Ed.), Kartäusisches Denken und daraus resultierende Netzwerke vom Mittelalter bis zur Neuzeit. (pp. 233-276). Salzburg: Institut für Anglistik und Amerikanistik. Analecta Cartusiana 276:5
- http://islam-occident.ens-lyon.fr/spip.php?article97
- http://www.sueddeutsche.de/kultur/skandalbuch-von-sylvain-gouguenheim-der-mittelalter-sarrazin-1.1134165
- http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/aristoteles-auf-der-klosterinsel-1.750064