Religionswissenschaftler ordnen das Christentum, zusammen mit Islam und Judentum, den Buch- oder Offenbarungsreligionen zu. Damit meinen sie: diese Religionen stützen sich auf Offenbarungen, die angeblich von Gott stammen und in heiligen Büchern von Propheten oder Religionsgründern niedergeschrieben sind. An diese Offenbarungen muss man „glauben“, damit man zum Heil kommt oder dazugehört. Ich halte das für eine Verkennung der Tatsachen. Christentum ist eine Erfahrungsreligion (wie im Übrigen vermutlich auch die anderen beiden Religionen, zumindest im Kern und im Ursprung; aber da ich sie zu wenig kenne, will ich mich dazu nicht äußern). Sie beruht auf – inneren und äußeren – Erfahrungen der Gründer des Christentums und all jener, die zu seiner Verbreitung und Veränderung, seiner Gestaltung und Auswirkung beigetragen haben.
Karl Rahner hat dies klar gesehen und prophezeit, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sein werde oder gar nicht mehr existieren würde. Dies zeigt uns die Brücke: Mystiker sind Menschen, die über ihre innere Erfahrung Zugang zu einer Wirklichkeit erlangen, die vor unser aller Augen liegt, die aber den meisten nicht auffällt, weil sie zu sehr mit sich selber oder mit irgendwelchen Ideen beschäftigt sind. Diese Erfahrung interpretieren sie dann – notgedrungen, denn wir können nicht umhin, unsere Erfahrungen zu interpretieren – und zwar meistens im Rahmen der Bilder und Motive, die sie aus ihrer Kultur, Erziehung und Zeit her kennen. Wenn Rahner meint, der Christ der Zukunft – also alle Christen – müssten Mystiker werden, so meint er damit: Christen müssen, wenn sie in einer zukünftigen Welt Bestand haben wollen, ihre Religion von innen her, also durch eigene Erfahrung nachvollziehen. Oder anders ausgedrückt: Sie müssen sich selber um innere Erfahrung bemühen oder sich ihr öffnen, damit sie ihre Religion besser verstehen und sie von innen heraus beleben können.
Die Erscheinungen des auferstandenen Jesus schließlich sind ebenfalls nur als Erfahrungen sinnvoll deutbar, scheint mir. Und auch das Pfingstereignis, das in der Apostelgeschichte beschrieben wird, macht nur als Chiffre einer Erfahrung Sinn.
Mein Punkt ist: das Christentum muss insgesamt als Erfahrungsreligion verstanden werden. Dass schon der Garant dieser Religion, der historische jüdische Rabbi Jeshua, aus seiner inneren Erfahrung heraus handelte, zeigen die Evangelien all jenen, die genau hinschauen, sehr gut. Wenn es etwa am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu bei der Taufe im Jordan heißt (bei Markus 1,9ff. und Matthäus 3,13ff., nicht mehr bei Lukas 3,21f): er sah den Himmel offen und er hörte eine Stimme, die ihn als Sohn Gottes ansprach (und nicht die anderen), dann ist damit eine Erfahrung beschrieben. Diese Erfahrung würde ich mit einem eher neutralen Begriff als eine Erleuchtungserfahrung bezeichnen, in der sich die Wirklichkeit in aller Klarheit zeigt. Und darin klärt sich auch: Ich und die Wirklichkeit, die im religiösen Kontext gerne als „Gott“ beschrieben wird – einer der am meisten missverstandenen Worte der Geschichte [1] – sind nicht getrennt. Daher wendet der historische Jesus das Wort „Vater“ auf die Bezeichnung dieser Wirklichkeit und dieser Erfahrung an. Eine ähnliche Struktur sehen wir bei der Geschichte von der Verklärung: auch hier ist die Stimme hörbar, diesmal nicht nur für Jesus, sondern auch für seine drei Begleiter. Wiederum ist eine Erfahrung beschrieben. Die Erscheinungen des auferstandenen Jesus schließlich sind ebenfalls nur als Erfahrungen sinnvoll deutbar, scheint mir. Und auch das Pfingstereignis, das in der Apostelgeschichte beschrieben wird, macht nur als Chiffre einer Erfahrung Sinn. Paulus, der erste Verbreiter der jungen Lehre in der römischen Welt, ist nur durch seine Erfahrung der tiefen Erschütterung vom Verfolger zum Verkünder geworden. Und die Impulse der großen Ordensgründer und Gestalten der Kirchengeschichte – Augustinus, Benedikt, Bruno, Franziskus, Ignatius – um nur einige zu nennen, sie alle kommen aus historisch recht gut bezeugten tiefen Erfahrungen.
Glaube bezeichnet … das Vertrauen, das man in eine Person oder in eine Wirklichkeit hat, oder in die Wirklichkeit schlechthin.
Warum, wenn das so ist, spielt dann der „Glaube“ eine so große Rolle und wofür steht dieser Begriff? Zunächst ist es wichtig festzuhalten: der Begriff „Glaube“ ist eine Übersetzung des griechischen Begriffes „pistis“ im Neuen Testament. Er bedeutet „Vertrauen haben, glauben“ und bezeichnet weniger das Glauben irgendwelcher Inhalte im Sinne von“glaub mir, Du brauchst selbst nicht hinzuschauen“ als vielmehr das Vertrauen, das man in eine Person oder in eine Wirklichkeit hat, oder in die Wirklichkeit schlechthin. Die historischen Jünger haben Jesus „geglaubt“, weil sie mit eigenen Augen gesehen und erfahren haben. Für die Nachfolgenden hat der Glaube damit eine Art Stellvertretercharakter. Man kann die Geschichten, Ereignisse, Lehren einfach „glauben“. Das ist nur eine Option, wenn auch vielleicht die von Christen bislang am Häufigsten gewählte. Man kann sie aber auch als Chiffren und Symbole für innere Erfahrungen lesen und damit als Sinnstiftung und Auslegungsmöglichkeit eigener Erfahrungen, die einem widerfahren sind oder um die man sich bemüht. Aufgabe einer – zukünftigen – Theologie wäre es dann, die Übersetzungen zwischen Text und Erfahrung herzustellen, Brücken zu schlagen zwischen historischer Formulierung und moderner Erfahrung. Das ist Zukunftsmusik, ich weiß. Aber man kann mit Rahner ja einfach immer wieder drauf hinweisen.
„Glaube“ ist also im Tiefsten eine Chiffre für eine Haltung, die aus Erfahrung entsteht. Wenn „Glaube“ dieser Stütze beraubt ist, dann verkümmert er, in jeder Religion, zur Ideologie. Diese Ideologie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie von nicht mehr weiter hinterfragten und häufig auch unbewusst wirksamen Axiomen ausgeht, deren Setzung als selbstverständlich angenommen wird. Insofern ist Christentum ohne Erfahrungskern genauso eine Ideologie wie Marxismus, Islamismus, Marktliberalismus, Qualitätssicherung, wenn sie hirnlos betrieben wird [2], Szientismus, Kapitalismus oder andere Ismen.
Erfahrung ohne soziale Form wird auf Dauer wirkungslos bleiben. Religion ohne Erfahrung verkommt zur Ideologie.
Aus der Erfahrung entstehen durch komplexe Prozesse Geschichten und Narrative, die versuchen, die Erfahrung zu fassen. Weil die Erfahrung vielschichtig und multivalent ist – nicht einfach zu beschreiben, wie Sätze, deren Gehalt einfach festgestellt werden kann – darum sind die Geschichten der christlichen und anderer Religionen grundsätzlich vieldeutig. Sie sind rätselhaft, oft paradox und erschließen sich nur dem, der im Ansatz eine ähnliche Erfahrung gemacht hat. Damit haben sie auch die Aufgabe zu deuten und hinzuführen: eben zu der zugrundeliegenden Erfahrung. Sie drücken sie in Bildern und Metaphern aus. Und aus den sozialen Prozessen drumherum entstehen Rituale und Praktiken, die die Aufgabe haben, die Erfahrung zu fassen und zu vermitteln. Das ist das, was wir Religion nennen. Religion ist kristallisierte Erfahrung.
Das Verhältnis von Erfahrung zu Religion ist etwa so wie das von Inhalt und Form bei einem Gedicht oder einem Kunstwerk. Keines kann ohne das andere bestehen. Sie verweisen aufeinander, benötigen einander und sind nur gemeinsam wirksam. Erfahrung ohne Form wird auf Dauer wirkungslos bleiben. Religion ohne Erfahrung verkommt nicht nur zur Ideologie, sondern wird lebensfeindlich, wie die Kirchengeschichte durch eine traurige Blutspur von den Kreuzzügen bis zu den Ketzer- und Hexenverfolgungen und eine mindestens ebenso traurige Spur gebrochener Existenzen durch psychischen und physischen Missbrauch zeigt. Dies sehen wir auch momentan an all jenen Plätzen, wo islamistischer Terror im Namen der Religion mordet, zerstört und Gewalt ausübt. Wir sehen es auch dort, wo im Namen des Profits Menschen entrechtet, ihrer Existenz, ihrer Würde oder ihres Lebens beraubt werden. Immer ist im Hintergrund eine Ideologie, die sich vom grundlegenden Erfahrungskern jeder Religion und allen echten Lebens entfernt hat: der Erfahrung allseitiger Verbundenheit und Verwiesenheit. Die Religionen sagen dazu in der Regel „Brüderlichkeit“ (oder „Geschwisterlichkeit“).
Mit Handeln ist hier nicht Aktivismus gemeint, sondern religiös spirituelle Praxis. Ich verwende dafür gerne den Ausdruck „Kultivierung des Geistes“.
Gerade in der heutigen Herausforderung, wo auf der einen Seite eine diffuse Angst vor einer Islamisierung unserer westlichen Kultur herrscht, auf der anderen Seite ein immer größerer Rückgang eben jener grundlegenden Werte der gegenseitigen Verbundenheit zu bemerken ist, scheint mir die wichtigste Aufgabe der christlichen Religion klar zu sein. Wenn wir wollen, dass diese Werte nicht untergehen, müssen wir – jeder einzelne, aber auch die Kultur- und Würdenträger – den Erfahrungskern des Christentums freilegen, verfügbar machen, vermitteln. Gelingt uns das nicht, dann hat das sog. „Christliche Abendland“ sein kulturelles Existenzrecht zum Mindestgebot verhökert.
Wie kann das gelingen? Das ist einfach: durch Praxis. Was tut Jesus, um seine Erfahrung mitzuteilen? Er handelt (nicht nur, aber vor allem). Was empfiehlt er seinen Jüngern? Zu handeln. Mit Handeln ist hier nicht Aktivismus gemeint, sondern religiös spirituelle Praxis. Ich verwende dafür gerne den Ausdruck „Kultivierung des Geistes“, den ich aus der buddhistischen Tradition übernehme [3]. Er ist die Übersetzung des Pali-Begriffes „dhyana“, der in älteren Übersetzungen oft als „Meditation“ wiedergegeben wird. Im christlichen Kontext spricht man gerne von Kontemplation. Aber die Begrifflichkeit ist sekundär. Es geht um den Gehalt: tägliche Übung, z.B. einer einfachen Meditation und Achten auf den Atem. Auch Rosenkranzgebet, Herzensgebet, Yoga und ähnliches gilt, solange es als regelmäßige Praxis und mit der Intention einer inneren Kultivierung des Geistes und der Erfahrungssuche betrieben wird. Übungen, die jemand betreibt, um gelassener zu werden oder effizienter im Job zu sein, können diese Bedingungen auch erfüllen bzw. können zu einer solchen Praxis werden, wenn sie regelmäßig betrieben werden. Die Regelmäßigkeit wird über kurz oder lang zu Erfahrungen führen. An dieser Stelle setzt die Deutungsarbeit der Religion ein, sofern sie denn verstanden hat, dass das ihre Aufgabe ist.
Regelmäßige Übung, spirituelle Praxis, ist weder östlich noch westlich, ist nicht auf bestimmte Religionen beschränkt, es ist einfach die Basis von Erfahrung und von Kultivierung des Bewusstseins.
Eine solche Übung hat nichts mit Buddhismus oder östlicher Selbsterlösung zu tun, wie man aus christlichen Kreisen gerne zu hören bekommt. Im Buddhismus findet sich in Bezug auf die Methoden einfach eine durchgängigere Lehr- und Praxistradition. Im Westen gibt es aber durchaus relevante Ansätze. Ich habe vor Jahren einen ziemlich unbekannten, aber historisch wichtigen mystischen Kartäuserschriftsteller, Hugo de Balma, übersetzt [4]. Dort setzt er sich in einem Streitgespräch mit unterschiedlichen Meinungen auseinander, u.a. der, dass man doch nicht einfach das Denken bleiben lassen könne. Das scheint also kein modernes, sondern ein uraltes Vorurteil zu sein. Auf die Frage „Was soll ich denn tun, wenn ich nicht an Gott und die Engel denken darf“ antwortet er: „Aspirabit, non cogitabit“ – „Atmen, nicht denken“.
Regelmäßige Übung, spirituelle Praxis, ist weder östlich noch westlich, ist nicht auf bestimmte Religionen beschränkt, es ist einfach die Basis von Erfahrung und von Kultivierung des Bewusstseins. Der größte Fortschrittsschub in der Geschichte der modernen Medizin ist durch die flächendeckende Umsetzung von Hygiene möglich geworden: sauberes Trinkwasser, sanitäre Anlagen, Händereinigung. Der durchschnittliche postmoderne Mensch verbringt mindestens 30 Minuten mit körperlicher Hygiene. Zu Recht. Warum nicht mindestens genauso viel geistige Hygiene betreiben? Nicht auszumalen, zu welcher Entwicklung das führen könnte.
Für die christliche – und jede andere – Religion jedenfalls wäre das vermutlich der Schlüssel. Denn er würde den Menschen das zurückgeben, was zum Kern gehört: spirituelle, religiöse, Erfahrung. Sie könnten es sich sparen, diese in allen möglichen Ersatzhandlungen zu suchen, wo sie nicht zu finden ist. Viele Leute könnten sich das Papier und die Zeit für Indoktrinationen sparen. Und wir könnten vermulich mit sehr viel mehr Menschlichkeit und Kreativität an die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen herangehen.
Quellen und Hinweise:
[1] In meinem Spiritualitätsbuch [Walach, H. (2015 (orig. 2011)). Spiritualität: Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen. Klein Jasedow: Drachen Verlag.] habe ich das etwas genauer erläutert.
[2] Walach, H. (2009). Hurra wir haben eine neue Religion. Über Qualitätssicherung. Forschung & Lehre, 16, 342-345. http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=1547
[3] und auf den in dieser Form in jüngerer Zeit Metzinger hingewiesen hat: Metzinger, T. (2006). Der Begriff einer „Bewusstseinskultur“. e-Journal Philosophie der Psychologie(Jan). http://www.jp.philo.at/texte/MetzingerT1.pdf
[4] Walach, H. (1994). Notitia experimentalis Dei – Erfahrungserkenntnis Gottes. Studien zu Hugo de Balmas Text „Viae Sion lugent“ und deutsche Übersetzung. Salzburg: Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Salzburg. Analecta Cartusiana 98:1; http://www.umilta.net/analectacartusiana.html
Walach, H. (2009). A medieval Carthusian monk’s recipe to multiple kensho: Hugh of Balma’s approach to mystical union and some striking similarities to modern Zen teaching. Studies in Spirituality, 19, 199-225. https://www.researchgate.net/publication/250135614_A_Medieval_Carthusian_Monk's_Recipe_to_Multiple_Kensho
Walach, H. (2010). Notitia Experimentalis Dei – Experiential Knowledge of God: Hugh of Balma’s Mystical Epistemology of Inner Experience – A Hermeneutic Reconstruction. Salzburg: Institut für Anglistik. Analecta Cartusiana 98:2 http://www.umilta.net/analectacartusiana.html