Ich hatte das große Privileg, in meiner Studienzeit im Jahr 1980/81 die hervorragende japanische Logikerin Hide Ishiguro vom University College London als persönliche Tutorin zugeteilt zu bekommen. Ich musste mit meinem Kollegen wechselweise Texte lesen und dazu Kurzreferate vorbereiten. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mir hängenblieb: Als in Japan durch europäische Händler im 16. Jahrhundert Feuerwaffen eingeführt wurden, veränderte sich das Kriegswesen. Einige Schlachten waren so brutal – etwa die, die in Akira Kurosowas Film Kagemusha erzählt wird – dass Japan sich mindestens für eine kurze Zeit darauf einigte, die Feuerwaffen zu bannen. Das ist ein interessantes historisches Beispiel dafür, dass eine vermeintlich unumgängliche technologische Revolution rückgängig gemacht werden kann, weil man verstanden hat, dass sie verheerende Folgen hat. Wir wissen, dass das leider nicht auf Dauer war. Aber es ist möglich.
Kann eine vermeintlich unumgängliche technologische Revolution rückgängig gemacht werden?
Mir fiel die Geschichte jüngst wieder ein angesichts der terroristischen Attentate in Frankreich und Deutschland, die nichts anderes sind als eine Verlängerung des aberwitzigen Krieges, den IS und Co. im Nahen Osten führen und den man wiederum als Reaktion auf die vom Westen ausgehende Destabilisierung der Region sehen muss. Wir denken zwar, dass dieser Krieg bei uns in Europa mit Sprengstoff, Waffen, Autos, Messern, Äxten und Blut geführt wird. In Tat und Wahrheit wird er aber mit Bildern geführt.
Die Attentäter und vermeintlichen Glaubenskrieger spekulieren nämlich darauf, dass der Schrecken, der wahrlich groß genug ist, wenn zig Menschen sterben oder verletzt werden, dadurch potenziert wird, dass die Bilder, die dabei entstehen, millionenfach um die Welt gehen. Aufgenommen als private Videos von unfreiwilligen Möchtegernreportern, die gerade vor Ort sind, von Fernsehteams, die das Ganze noch mit offiziellem Segen krönen und in die Nachrichten strahlen, Gruselunterhaltung rund um die Uhr für jedermann.
Und so gelangt das, was die Attentäter eigentlich wollen, überall hin.
Und so gelangt das, was die Attentäter eigentlich wollen, überall hin: Angst und Schrecken verbreiten, damit wir von uns aus das tun, was ihnen nie gelingen kann. Nämlich unsere freiheitliche Ordnung und Lebensart, die wir uns über unsere eigenen historischen Kriege und politischen Auseinandersetzungen über Jahrhunderte mühsam errungen haben, einzuschränken. Die damit verbundenen Tugenden von Offenheit, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit, Freiheit und Toleranz einzuschränken.
Das kann keiner Terrororganisation mit direkten Interventionen von Gewalt und Kampf gelingen, weil ihnen dazu die nötige Schlagkraft und Mannschaftsstärke fehlen. Aber das könnte ihnen gelingen, wenn es sie es schaffen, in uns die Saat für Angst so zu legen, dass wir diese Tugenden freiwillig opfern. Aus Furcht und Sorge. Dann stehen wir am Ende genau so da in den Augen der Welt, wie sie uns zeichnen wollen und sehen: finster, menschenfeindlich, selbstsüchtig und egoistisch, nur auf den eigenen Profit bedacht.
Die Waffen, mit denen das für sie erreichbar ist, sind die Bilder.
Die Waffen, mit denen das für sie erreichbar ist, sind die Bilder. Bilder, die mehr oder weniger unvermeidbar entstehen und solche, die mit Absicht erzeugt werden, entweder von den Terroristen selber oder von unseren Medien. Die freie Information und die Pressefreiheit, die in der Tat ein extrem hohes Gut sind, wenn man an die Geschichte von Fouché, über Metternich und Hitler denkt, sie kehren sich in einer perfiden dialektischen Bewegung genau gegen das, was sie eigentlich schützen sollen: nämlich die freiheitliche Grundordnung.
Denn sie erst bringen die Bilder des Grauens in jedermanns Wohnzimmer und in aller Leute Köpfe. Bei Qualitätsmedien bemerkt man in letzter Zeit, dass sie sehr sorgsam mit den Bildern umgehen, die sie publizieren, gottseidank. Aber was ist mit den Bildern, die in den marktschreierischen Kanälen des Unterhaltungs-Nachrichtenmedienrummels transportiert werden? Mit den Bildern, die durch soziale Netze und das Internet geistern? Mit den Bildern, die durch rasche und hektische Whatsapp-, Facebook- und Twittertexte in den Köpfen der Leser entstehen?
Die ungefilterten Bilder transportieren ohne Denkpause direkten, ungefilterten Affekt.
Sie transportieren ohne Denkpause direkten, ungefilterten Affekt. Sie sind es, die als verkappte Zeitbomben in die Wohn- und Schlafzimmer, in die Schul- und Kinderzimmer gleiten und eine verspätete, stille Explosion auslösen. Sie erzeugen Angst und Schrecken. Und genau das ist die Kriegsstrategie derer, die das Tableau für die Bilder liefern.
Wie kann man sich dagegen schützen? Durch Enthaltsamkeit und Bilderfasten. Schalten wir den Fernseher ab und greifen zu einer Zeitung, um so die invasive Kraft schrecklicher Bilder zu bannen! Tun wir den Schergen des Grauens nicht den Gefallen, uns ihre Videoschnipsel auf Youtube und ihren Webseiten anzusehen! Und unterlassen wir es, die Bilder, die uns zuflattern weiterzuleiten in der irregeleiteten Meinung, damit der Aufklärung und der Information zu dienen! Wenn wir damit irgendwem dienen, dann denen, die uns Schrecken einjagen wollen.
Der Fernseher hat einen Ausschaltknopf.
Die wirksamste Methode gegen die Angst ist in diesem Falle, die Technologie, die uns die Angst frei Haus liefert, abzustellen und zu ignorieren. Das kann jeder und keiner muss mit den Fingern auf die bösen Medien oder auf das schlimme Internet zeigen, die uns mit Bildern bombardieren. Der Fernseher hat einen Ausschaltknopf. Der PC auch: Das Internet stellt seine Schattenseiten nur dem zur Verfügung, der sie sich auf den Schirm holt.
Dennoch würde ich mir wünschen, dass die Medien den Attentätern den Gefallen nicht tun, ihre Taten auf den Titelseiten reich bebildert breitzutreten. Eigentlich gehören sie dorthin, wo sonst Meldungen darüber stehen, dass in Darfour wieder mal 200 Leute getötet oder in den Philippinen eine Fähre mit 400 Leuten an Bord gesunken oder in Brasilien Goldschürfer ein Gebiet so groß wie Bayern mit Queckilber verseucht haben oder in Eritrea 200.000 Menschen vom Hungertod bedroht sind.
10-Zeiler in einer Viertelkolumne, ohne Bild. Das würde funktionieren, wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens darüber hätten, dass man niemandem den Gefallen tun darf, mit Bildern und Berichten über seine aberwitzigen Taten auch noch Werbung für ihn zu machen. Wenn es ein Tabu wäre, aus solchen Ereignissen politisches Kapital für eigene Positionen zu schlagen. Weil das vermutlich illusorisch ist, bleibt uns nur eines: selber unsere Freiheit zu nutzen und Enthaltsamkeit zu üben. Bilderfasten, Nachrichtenfasten – auch das gehört zu einer Kultivierung des Geistes.