Kein Beifall aus der Mitte

Das neue Buch #alles dicht machen – 53 Videos und eine gestörte Gesellschaft, herausgegeben von Michael Meyen, Carsten Gansel, Daria Gordeeva, Berlin: Oval Media, 428 S., 24 €; ISBN 978-3-949559-07-5

Ich habe Angst vor Beifall aus der Mitte – ich will keine Preise und wenn etablierte Kreise sagen, das, was ich mache, sei gut, dann mache ich was falsch.

Das war schon immer mein implizites Arbeitsmotto, seit ich ca. 1980, also zwei Jahre, nachdem ich zu studieren begonnen habe, verstand, dass fast alle Reform, fast alle Erneuerung, fast jede wichtige neue Wegweisung in der Wissenschaft wie in der Gesellschaft meist vom Rand aus geht. Das mag in Einzelfällen anders sein, aber als Maxime ist dies, finde ich, sowohl historisch als auch wissenschaftstheoretisch sehr brauchbar.

Glauben Sie nicht? Einige Beispiele.

Religion: Jesus? Buddha? Mohammed? Alles eher Gestalten, die in ihrer Zeit und Gesellschaft am Rand standen oder ihn aktiv suchten. Geschichte: Rom? Anfangs marginal. Franken? Wilde von außerhalb. Städte? Anfangs Agglomerationen am Rand der Macht. Wissenschaft: Nominalismus und empirische Naturforschung? Anfangs die Gegenbewegung zum aristotelischen Mainstream. Semmelweis, mit den Anfängen der Hygiene? Ausgelacht und in der Psychiatrie endend. Pasteur mit seinen Gedanken zur Keimtheorie? Zunächst als Außenseiter verspottet. Politik: Die Akteure der Französischen Revolution? Armenadvokaten allesamt. Napoleon Bonaparte? Ein Provinzmajor. Die deutschen Grünen? Anfangs verrückte Turnschuhaktivisten, jetzt im Zentrum der Macht. Gewiss, es gibt auch Gegenbeispiele. Newton war Professor, Galileo und Einstein auch. Aber das, wofür sie standen und was sie machten, war zunächst absolut randständig.

Und weil ich den Rand so interessant finde, habe ich mich immer mit randständigen Themen beschäftigt: Komplementärmedizin und Homöopathie, Parapsychologie, Bewusstsein und Spiritualität. Daher will ich auch keinen Beifall aus der Mitte, schon gar nicht vom wissenschaftlichen Mainstream. Nicht, dass das, was dort geschieht, falsch ist, gar nicht. Im Zentrum des wissenschaftlichen Mainstreams werden Themen behandelt, die die meisten gut und wichtig finden. Dorthin fließen die meisten Ressourcen und dort sind die meisten Leute tätig. Die Schwergewichte unter den akademischen Institutionen buhlen dort um Anerkennung und Durchsetzung.

Neulich fragte mich ein Kollege, der mich auf einer Online-Tagung vorzustellen hatte: „May I call you a controversial figure (Darf ich Dich als umstrittene Person vorstellen)?“ Ich sagte: „I’d be honoured. Everybody who is uncontroversial has nothing interesting to say (Ich würde mich geehrt fühlen. Wer nicht umstritten ist, hat nichts Interessantes zu sagen).“

Denn: Das am Rand ist umstritten und interessant. Auch in der Corona-Krise ist das so. Man muss dorthin schauen, wo andere wegsehen, weil sie denken, es gebe dort nichts zu sehen oder das, was es zu sehen gibt, sei politisch falsch und irrelevant. Dorthin gehen, wo sich andere wegducken.

Das macht auch dieses Buch, herausgegeben von Michael Meyen, Carsten Gansel und Daria Gordeeva. Dort werden 53 Videos der Schauspieler- und Künstleraktion #allesdichtmachen  zitiert, kommentiert, analysiert und mit eigenen Beiträgen gerahmt. Die Schauspieler sind fast alle sehr prominent und präsent in der deutschen Fernseh- und Kinolandschaft.

Die Videos und die, die sie präsentieren, werden jeweils im Originalton kurz vorgestellt, z.B.:

Mein Name ist Jens Wawrczek. Ich bin Schauspieler… Und ich habe Angst vor Beifall von der falschen Seite…. Wenn ich Theater spiele, darf im Zuschauerraum in der rechten Hälfte niemand sitzen… Dann kommt der Beifall nur von links. Allerdings: Wenn man dann unten steht, … ist das ja andersrum. Dann sitzen die Leute nur rechts. Und dann… darf da auch niemand sitzen… Das Theater muss ganz leer sein… Dann kommt kein Beifall von der falschen Seite. Und dann fühle ich mich sicher. Bleiben Sie gesund und…“

Anschließend wird der Text des Videos, der Schauspieler und seine Vita sowie der weitere Verlauf des Diskurses um das Video auf etwa einer Seite, manchmal länger, besprochen. Die Vorstellung und Analyse der 53 Videos dieser Aktion machen den Kern dieses Buches aus. Dabei sind auch die Videos derjenigen Schauspieler erfasst, die ihre Videos wieder zurückgezogen haben, und das waren einige.

Wie man erfährt, waren die Ablehnung, die die Leitmedien – BILD ausgenommen – formulierten und der Shitstorm, der sich anschließend in den sozialen Medien ergossen hat, der Hauptgrund für den Rückzug. Ein Politiker rief dazu auf, die Schauspieler nicht mehr anzuheuern. Manche Akteure wurden verunglimpft und viele, vor allem wohl der jüngeren Schauspieler hatten Angst um ihre ohnehin prekären Engagements, scheint es.

Daher ist dieser Text ein historisches Archivdokument, Dokumentation der Diskursleere der Gesellschaft und damit auch eine Diskurslehre für alle.

Es ist nützlich, das Buch von hinten zu lesen. Dort analysiert und kommentiert der Schauspieler, Musiker und Regisseur Dietrich Brüggemann zwei Tagesspiegel-Beiträge, die online erschienen sind und eine Verschwörung der Schauspieler um Brüggemann aufgedeckt haben wollen. Die satzweise Dekonstruktion der Tagesspiegel-Texte ist stellvertretend eine Analyse über den Zusammenbruch des Diskurses. Brüggemann weist den Autoren der Tagesspiegel-Beiträge nach, dass sie unreflektiert von einer einzigen Wahrheit ausgehen. Diese lautet: Die Maßnahmen, die die Bundesregierung setzte, waren alternativlos, wirkungsvoll und richtig. Das Interessante an der Abwesenheit des Diskurses ist ja gerade, dass die Richtigkeit dieser „Wahrheit“ nie wirklich kontrovers diskutiert und schon gar nicht wissenschaftlich bewiesen wurde [1]. Der anscheinende öffentliche Konsens war ein medial konstruierter Scheinkonsens.

Und weil dieser Scheinkonsens vorausgesetzt wird, ist a forteriori jede Kritik an dieser Mainstreamhaltung falsch und kann nur, klare Logik, aus der falschen politischen Ecke kommen und die ist? Bingo: die rechte. Egal, dass sich Brüggemann in vielen Blogs als „Linker“ geoutet hat. Auch, dass die meisten Schauspieler und Künstler eher liberal und links als irgendwas anderes sind. Aber der Tagesspiegel bringt es fertig, durch multiple, vor allem indirekte Kontaktschuld Brüggemann als rechten Kopf einer koordinierten Aktion hinzustellen, die in „Wirklichkeit“, also in Tat und Wahrheit, eher chaotisch selbst-organisiert war.

Bei Brüggemann erfährt man auch, wie die Aktion zustande kam: Einige Schauspieler und Künstler hatten eine Zoomgruppe, besprachen sich, machten Texte und kamen schließlich auf die Idee satirische Beiträge zu machen, fragten ein paar Kollegen, die auch ein paar Kollegen fragten und fertig war die Aktion.

Gordeeva und Meyen analysieren in ihrem Beitrag das Medienecho der Leitmedien und kommen zu einem klaren Urteil: Die Leitmedien waren darauf aus, die Aktion zu delegitimieren und damit den Widerspruch, den Einspruch, den Aufruf zum Denken, der aus den Videos spricht, unhörbar zu machen. Damit beschreiben die Autoren die postmoderne Wirklichkeit in der Medienlandschaft: Wahr und wirklich ist, was in den Medien vorkommt und von ihnen als richtig präsentiert wird. Alles andere existiert nicht oder ist falsch [2].

Wenn man das weiß, dann sieht man auch die Videos, manche von ihnen noch auf der Webseite zu sehen, und vor allem die Texte der Schauspieler, die ihre Videos zurückgezogen haben, mit anderen Augen. Dann kann man auch verstehen, warum manche ihre Videos, die eigentlich kluge Satire, manchmal sarkastischer Biss sind, zurückgezogen haben. In ihren Entschuldigungen auf Twitter und Co sprechen sie dann von ihrer „Naivität“, dass sie überrascht waren, dass sie damit Menschen verletzt hätten und stimmten pflichtgemäß in die Einstimmigkeit des Corona-Mainstreams ein. Kann man gut verstehen. Die Leute haben noch ein Berufsleben vor sich und wollen von ARD und Co. angeheuert werden.

Insofern ist dieses Buch ein extrem wichtiger Archivbeitrag zur Corona-Debatte, zur Cancel-Culture, zur Engführung des medial-politischen Diskurses und wie dieser funktioniert. Wer sich für Satire interessiert, die Videos nicht kennt, oder sie kennt und etwas Hintergrund wissen will, der wird dieses Buch schätzen. Für Medienschaffende und Profikommunikateure sollte es in Zukunft zum Kanon gehören, finde ich.

Mich hat die Lektüre ermuntert und betrübt zugleich. Ermuntert: Die Texte sind aus meiner Sicht von hoher Qualität. Auch wenn man sie nur liest. Man staunt, wie viel Botschaft in einer Minute Videotext enthalten ist. Welch witzige, satirische, oft bissige Wendungen. Ich bin Video-, Fernseh- und Medienmuffel. Für mich sind solche Texte wertvoll. Aber auch die Analysen helfen beim Verstehen. Vielleicht schau ich mir jetzt sogar ein paar Videos an, wer weiß…

Betrübt: Das Buch macht in geballter Dichte deutlich, wie stark in der Corona-Debatte der gesellschaftliche Diskurs verzerrt, ja verhindert wurde. Daher ist der Untertitel des Buches „… und eine gestörte Gesellschaft“ präzise.

Wenn die Analyse des Buches stimmt, und ich fürchte, sie stimmt, dann wird die Mainstreampresse und -medienlandschaft die Existenz dieser Analyse verschweigen und damit dafür sorgen, dass es sie nicht gibt und verhindern, dass aus dem Heilewelt-Bild unserer Politlandschaft ein paar Gartenzwerge geklaut werden. Von daher würde ich mir wünschen, dass das, was die Aktion ausgelöst hat, dass nämlich trotz der geballten Medienbarrage 30 % der Bevölkerung die Aktion gut gefunden hat, weitergeht und einfach viele diese Aktion und ihre Inhalte, vielleicht über dieses Buch, weitertragen.

Literatur

  1. Kampf G. Wissenschaft ist frei. Auch in der Pandemie? Hamburg: tredition; 2021.
  2. Meyen M. Die Propaganda Matrix: Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft [The Propaganda Matrix: The Fight for Free Media Decides Our Future]. München: Rubikon; 2021.