Drei Tage nachdem ich meinen letzten Blog geschrieben habe, der sich auf die wöchentlichen Berichte des RKI stützt, veröffentlichte das RKI am 3.9.2020 ein neues Epidemiologisches Bulletin [1] mit wöchentlichen Zahlen, die von denen in den wöchentlichen Bulletins erheblich abweichen. Darauf haben mich dankenswerter Weise einige Leser meines Blogs hingewiesen. Hier ist die graphische Darstellung der neuen Daten (Abbildung 1), wieder als die wöchentliche Anzahl der Testungen auf der linken Achse abgetragen, blau dargestellt und als den prozentualen Anteil der positiven Fälle rechts abgetragen, rot dargestellt.
Daraus ergibt sich auch die Zahl von insgesamt 13,5 Millionen Testungen, die das RKI berichtet (meine im früheren Blog genannte Zahl war falsch und einem Missverständnis geschuldet).
Man sieht eine ähnliche Tendenz wie in den Abbildungen in meinem letzten Blog, allerdings sind die Zahlen andere. In der Kalenderwoche 20, also ab dem 11. Mai, war die prozentuale Anzahl der positiven Tests bereits unter 2% und stieg seither nie mehr darüber. Seit der Woche 26, also seit dem 22. Juni liegt dieser Prozentsatz positiver Testergebnisse unter 1%.
Erinnern wir uns, was ich über die Validität des Tests gesagt habe, der ca. 2,1% falsch Positive produziert [2], wird deutlich: Wir bewegen uns spätestens seit Mitte Mai im statistischen Rauschen. Diese Daten bestätigen noch klarer als die aus den wöchentlichen Bulletins, dass der prozentuale Anteil der positiv Getesteten stetig abnimmt und immer noch abnimmt. Von einem Anstieg der Infektionen kann keine Rede sein.
Das RKI hat mir auf Nachfrage mitgeteilt, dass die Divergenz der Daten daher komme, dass in die wöchentlichen Berichte, deren Daten ich für meinen letzten Blog verwendet habe, nur eine Auswahl der jeweils freiwillig gemeldeten Daten eingeht. Deswegen dürften die hier vorgestellten Daten auf jeden Fall die zuverlässigeren sein.
Wir können also festhalten, dass die Daten, die das RKI jüngst publiziert hat klar zeigen:
- Es gibt seit Mai keinen Anstieg der positiv Getesteten, weil der prozentuale Anteil der positiv Getesteten an allen Tests seither nie über 2% lag und damit im Bereich des statistischen Rauschens.
- Es gibt keine Datenbasis für die Behauptung, wir hätten eine steigende Gefahr durch Rückkehrer aus dem Urlaub und erhöhte Fallzahlen.
Neue Modelle zeigen: Die Infektionsdynamik hat einen eigenen Verlauf, unabhängig von allen politischen Maßnahmen
Ich bin in der Zwischenzeit auf zwei neue Modellierstudien aufmerksam geworden [3, 4]. Die erste [3] wurde in einem Report des renommierten National Bureau of Economic Research als Vorab-Druck publiziert. Die Autoren sind Ökonomen und verwenden Daten der Covid-19 Todesfälle aus 24 sehr verschiedenen Ländern (u.a. Brasilien, Deutschland, Panama, Schweden, Iran, Irland, Russland, Italien) und 25 US amerikanischen Bundesstaaten bis incl. Ende Juli. Sie suchten sich bewusst sehr unterschiedliche Länder aus der Johns-Hopkins Datenbank und der Datenbank der New York Times für die US-amerikanischen Bundesstaaten aus und modellierten erst die Verläufe der Todesraten für die einzelnen Länder und schätzten daraus die Modellparameter für ein übergeordnetes Modell. Das übergeordnete Modell überprüften sie dann wieder an den Verlaufskurven einzelner Länder.
Die Befunde sind bemerkenswert. Die Autoren finden folgende 4 Fakten, die für alle untersuchten Länder und Regionen zutreffen und die ich mit den Originalabbildungen illustriere, die mir der Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat:
- In jedem untersuchten Land fielen die Zuwachsraten der täglichen Todesfälle nach 30 Tagen rapide ab, nachdem insgesamt 25 kumulierte Todesfälle erreicht waren. Das ist in Abbildung 2 wiedergegeben.
- Nach diesen 30 Tagen verbleibt diese Zuwachsrate im Bereich von 0. Auch das ist in Abbildung 2 erkennbar.
- Die Standardabweichung, also die Streuung dieser Zuwachsraten waren am Anfang über die verschiedenen Regionen hinweg extrem hoch und fielen nach 10 Tagen auf ein sehr niedriges Niveau.
- Diese Dateninterpretation bleibt die gleiche, egal welche unterschiedlichen epidemiologischen Modelle an die Daten angepasst werden: Die Übertragungs- und Todesraten fielen also nach ca. 30 Tagen rapide ab, nachdem 25 kumulative Todesfälle erreicht waren und blieben bei Null, ohne wieder anzusteigen.
Die Daten zeigen also, dass es eine Art Entwicklungsbruch in den Verläufen gibt. Sie entwickeln sich eben nicht wild und unkoordiniert immer weiter nach oben, wie man das befürchten müsste, wenn ein völlig unkontrollierter Ausbruch geschieht. Sondern es scheint so zu sein als würde irgendetwas diese Entwicklung bremsen und brechen. Was könnte das sein? Die Autoren gehen davon aus, dass es politische Public-Health Maßnahmen wie Lockdowns, Abstandsregeln etc. genau nicht sein können, weil sie dieselben Verläufe in ganz verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen politischen Maßnahmen finden.
Ich gebe unten die Verläufe und ihre Modellierung für zwei sehr verschiedene Länder wieder: New York und Schweden (Abbildung 3-6). Man sieht an den Kurvenverläufen der aktuellen Daten (Abbildungen 3 und 5), dass das Modell sehr gut passt. Die aktuellen geglätteten Daten (blaue Kurven) liegen zum einen sehr nahe an den wirklichen Daten (schwarz und offene Punkte) und zum anderen an den modellierten Daten, also denen, die aufgrund des allgemeinen Modells vorhergesagt oder errechnet werden (rote Kurven). Man sieht an den Modellierungen der Zuwachsrate der Todesfälle (Abbildungen 4 und 6), dass die so unterschiedlichen Situationen in Schweden und New York sehr ähnliche Kurven von Zuwachsraten produzieren, die für alle Länder zutreffen, die die Autoren untersucht haben.
Was ich an dieser Studie und ihren Daten bemerkenswert finde: die genaue Analyse der Daten zeigt, dass ein Strukturbruch nach 30 Tagen, nachdem 25 kumulative Todesfälle erreicht sind, in der Entwicklung der Pandemie sichtbar ist und zwar in jedem der 49 untersuchten Regionen unabhängig von den sog. „non-pharmaceutical interventions“, nicht-pharmakologischen oder politischen Public-Health Maßnahmen wie Abstandsregeln, Maskentragen, Ladenschließungen, etc.
Eine andere Studie aus dem Labor von Michael Levitt in Stanford kommt zu ziemlich ähnlichen Schlussfolgerungen [4]. Diese Autorengruppe hat sich schon sehr früh um die Frage gekümmert, ob es Gemeinsamkeiten in den Verläufen gibt. Sie haben zusätzlich zu den täglichen Fall- und Todeszahlen noch eine andere Kennziffer untersucht: das Verhältnis der Fallzahlen eines Tages zu denen des Vortages, also das Wachstum. Sie sahen sehr rasch, dass es eben genau kein exponentielles Wachstum gibt, sondern einen relativ raschen linearen Abfall, und zwar in allen Regionen.
Das Spannende an diesem Projekt: sie untersuchen alle Länder der Welt und modellieren die Verläufe, genauer gesagt die Zuwachs- bzw. Abnahmeraten der Fälle und Todesfälle in Echtzeit, indem sie ihre Datenbasis jeden Tag aktualisieren und öffentlich zugänglich machen. Wer sich dafür interessiert findet unter http://levitt.herokuapp.com/ die aktuelle Darstellung. Man kann dort unter den Tabs „World“, „US“, „Italy“, oder „South America“ wählen und dann unter Location die jeweilige Region auswählen. Wer auf „World“ geht und dann „Germany confirmed“ und „Germany Deaths“ auswählt, erhält folgende Grafiken (Abbildungen 7 & 8):
Das Bemerkenswerte an dieser Arbeit ist, dass die Autoren zeigen können, dass in jedem einzelnen Fall und Land die Entwicklung der Fälle und Todesfälle einer sog. Gompertz-Funktion folgt. Das sieht man in Abbildung 9.
Die Gompertz-Funktion ist die in Abbildung 9 abgebildete schwarze Kurve. Sie konvergiert, wie man sieht, relativ rasch gegen ein Plateau. Das ist der Punkt, an dem der Zuwachs an neuen Fällen 0 ist. Diese negative Zuwachsrate gibt die blaue Kurve wieder, die genau den Logarithmus des Verhältnisses der Fälle an einem Tag zum Vortag wiedergibt, also die Zuwachsfunktion. Diese ist eben negativ, und zwar von Anfang an.
Anders ausgedrückt: es gab nie ein exponentielles Wachstum, sondern in jedem Fall und in jedem Land folgt der Zuwachs einer Gompertz-Funktion, die langsam aber sicher exponentiell abnimmt. Das zeigen die Autoren auch daran, dass eine ähnliche Funktion, eine sigmoide Funktion, die anfangs einen exponentiellen Zuwachs annimmt und erst dann abfällt, schlechter auf die Daten passt (Abbildung 2c in der Originalpublikation, hier nicht wiedergegeben).
Die Abbildung 9, die die Daten aus China (Provinz Hubei ausgenommen) zusammenfasst, ist repräsentativ für andere und sehr weit auseinanderliegende Länder. Es gibt zwar durchaus sehr unterschiedliche phänomenologische Verläufe, aber wenn man sie mit den in dieser Publikation angewandten Verfahren untersucht, dann findet man immer diese Eigenschaften.
Zusammengefasst zeigt also auch diese Publikation, ähnlich wie die Arbeit von Atkeson und Kollegen: Es gab nie ein exponentielles Wachstum, nirgendwo. Vielmehr fängt sich die Ausbreitung der Infektion relativ rasch ein und fällt ab. Dieser Abfall folgt einem direkten linearen Trend, der überall gleich ist.
Warum das so ist, gilt es herauszufinden. Dass es so ist, ist beruhigend. Denn es zeigt, dass sich die Pandemie fast überall bereits totgelaufen hat, egal wohin wir blicken, auf jeden Fall aber in Deutschland. Ein Beitrag aus Afrika, der kürzlich in Science publiziert wurde [5] merkt kritisch an, dass dort nirgendwo auch nur annähernd die prophezeiten Zahlen von Toten und Infizierten zu sehen sind. Zwar ist die Datenlage für Afrika nicht immer sehr zuverlässig, das machen die Autoren klar, aber so schlecht, dass man ein katastrophales Geschehen übersehen würde, ist sie auch nicht. In manchen afrikanischen Ländern ist sie sogar sehr gut.
Wie lässt sich dies erklären? Zum einen, meinen die Autoren, liegt das vielleicht daran, dass die Bevölkerung in Afrika sehr viel jünger ist als in den USA oder Europa. Zum anderen aber liegt es vielleicht auch daran, dass die hygienische Situation dort dazu führt, dass das Immunsystem sehr viel mehr gefordert ist. Dadurch ist vielleicht auch die natürliche Immunität besser trainiert, so dass diese sowohl besser auf neue Erreger reagieren kann, als auch die Überreaktion, die zu den gefürchteten Zytokinstürmen führen kann, weniger häufiger auftritt.
Auch die Analyse der Arbeitsgruppe von Michael Levitt hält fest [4]: Es gibt einen Kompressions-Faktor, der die Ausbreitung der Infektion in jedem Land sofort nach Sichtbarwerden bremst. Sie vermuten, dies hinge vielleicht damit zusammen, dass die Infektion bereits weit verbreitet ist bei Menschen, die kaum symptomatisch oder nur leicht symptomatisch sind, bevor sie sichtbar wird. Dadurch wäre die Ausbreitungsmöglichkeit des Virus automatisch begrenzt.
Fazit
Insgesamt also zeigen diese Daten, dass wahrscheinlicher ist, was ich und manche andere immer wieder schreiben: Wir dürfen die angeborene, natürliche Immunität nicht unterschätzen. Das ist nicht die erworbene Immunität, von der wir sprechen, wenn von Herdenimmunität die Rede ist, die durch Antikörper bzw. antikörper-erzeugende Lymphozyten gewährleistet wird. Das ist vielmehr die unspezifische, natürliche Immunität, die von natürlichen Killerzellen und zytotoxischen Lymphozyten bereitgestellt wird. Sie hinterlässt keine Spuren, deswegen kann man ihre Aktivität nicht nachweisen, soweit ich weiß. Man kann ihre Effektivität höchstens indirekt erkennen: daran, dass wir eben nicht oder nur sehr leicht krank werden, oder eben vielleicht dadurch, dass ein solcher Strukturbruch in den Daten auftaucht wie in diesen Publikationen berichtet.
Manche verweisen auch auf die mögliche Immunität durch Antikörper gegen andere Corona-Viren, mit denen wir alle längst Bekanntschaft gemacht haben. Durch Kreuzreaktion auf solche Antikörper könnte auch eine Immunität gegen das neue CoV2 gegeben sein.
Schätzungsweise hat die Infektion nach einer gewissen Zeit all diejenigen erreicht, deren natürliche Immunität zu schwach war um zu verhindern, dass sie symptomatisch werden. Danach läuft sie sich tot, weil alle anderen nicht empfänglich sind bzw. die Infektion schon lange abgewehrt haben. Bislang war das meine Vermutung. Nach diesen Daten finde ich diese Vermutung empirisch bestätigt. Wir können, scheint mir, beruhigt in die Zukunft blicken. Hoffentlich sehen das die wesentlichen Verantwortlichen langsam auch so.
Literatur
- Seifried J, Böttcher S, Albrecht S, Stern D, Willrich N, Zacher B, et al. Erfasssung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland. Epidemiologisches Bulletin. 2020;36:15-8. doi: 10.25646/7123.
- Matheeussen V, Corman VM, Donoso Mantke O, McCulloch E, Lammens C, Goossens H, et al. International external quality assessment for SARS-CoV-2 molecular detection and survey on clinical laboratory preparedness during the COVID-19 pandemic, April/May 2020. Eurosurveillance. 2020;25(27):2001223. doi: doi:https://doi.org/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.27.2001223.
- Atkeson A, Kopeck K, Zha T. Four stylized facts about Covid-19. Cambridge MA: National Bureau of Economic Research, 2020.
- Levitt M, Scaiewicz A, Zonta F. Predicting the Trajectory of Any COVID19 Epidemic From the Best Straight Line. medRxiv. 2020:2020.06.26.20140814. doi: 10.1101/2020.06.26.20140814.
- Mbow M, Lell B, Jochems SP, Cisse B, Mboup S, Dewals BG, et al. COVID-19 in Africa: Dampening the storm? Science. 2020;369(6504):624-6. doi: 10.1126/science.abd3902.